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Eintrag 9

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Eintrag 9 – Keine halben Sachen

Ein Tumult vor mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine gedrungene, hagere Frau stritt sich lautstark mit einem riesigen Mann, gleichwohl der Streit ziemlich einseitig wirkte – sie schrie ihn an, während er ruhig zuhörte. Seine markanten Gesichtszüge, sein langes schwarzes Haar und seine kastanienbraune Haut ließen auf indianische Herkunft schließen. Sein ruhiges Verhalten und seine verschränkten Arme standen in krassem Gegensatz zu der Wut der Frau. Die Situation schien ihn fast schon zu amüsieren und ich konnte nicht anders, als seine Gelassenheit zu bewundern. Ich war froh, dass ich den Zorn dieser Dame nicht zu spüren bekam.

Als der Mann mich sah, nickte er mir kaum merklich zu. Die Frau drehte sich um, schirmte ihre Augen ab und starrte mich einige Sekunden lang an, bevor sie auf mich zuzugehen begann.

Sie war klein, ich meine, wirklich klein. Höchstens 1,50. Was ihr jedoch an Größe fehlte, machte sie mit Energie und Wut mehr als wett. Eine winzige Atombombe in Menschengestalt, die es faustdick hinter den Ohren hatte. Ich bat Gott darum, mir beizustehen!

Dieser Typ Frau war mir äußerst zuwider – Tomboys in Söldneruniformen kamen immer so rüber, als würden sie etwas kompensieren müssen, weshalb die meisten von ihnen unerträglich in ihren Versuchen waren, sich mit den Männern zu messen, indem sie siech entweder wie kreischende Harpyien benahmen oder zwanghaft männlich waren. Ich war mir sicher, dass der Streit von vorhin nichts mit mir zu tun hatte, also lächelte ich sie einfach an und streckte ihr die Hand entgegen, in der Hoffnung auf eine herzliche Begrüßung.

„Hey, Arschgesicht!“

Oder auch nicht. Dieser Ausbruch traf mich völlig unerwartet und sorgte für Verwirrung. Sie war irgendwie niedlich – kurzes schwarzes Haar, scharfe Latina-Züge, dünne Lippen ... nicht mein Typ, aber trotzdem fühlte ich mich gezwungen, ihr weiter in die dunklen Augen zu schauen, und es dauerte eine Weile, bis ich merkte, was sie mir da schreiend an den Kopf warf.

"... von einem verdammten Gringo ausmanövriert, den Murdoch mir geschickt hat. Das ist MEIN verdammter Job! Und wer, zum Teufel, befiehlt schon, die Fahrzeuge mitten in der verdammten Wüste schwarz zu lackieren?! Hast du eine Ahnung, wie heiß es da drinnen wird, du Vollidiot?! Oder glaubst du, die haben alle eine Klimaanlage, du Spatzenhirn?"

Genau das hatte ich auch gedacht. Im Gegensatz zu ihnen hier. Ähm. Und ich hatte nichts befohlen. Bis gestern wusste ich noch nicht, dass ich heute in Arizona sein würde. In der Zwischenzeit hatte sich um uns herum ein loser Ring aus Zuschauern aufgestellt. Wo auch immer man ist, was auch immer man tut, eins bleibt überall gleich – die Menschen fühlen sich zum Drama hingezogen wie die Motten zum Licht. Und diese Dame hier hatte viel Drama in sich.

Ich musste die Situation mit meinem natürlichen Charme entschärfen. Und was konnte es besseres geben, um einen kleinen Dämon zu beruhigen als mit einer witzigen Bemerkung?

„Ganz ruhig, Shorty.“

Noch so eine meiner klugen Ideen. Dann passierten mehrere Dinge auf einmal.

Ihre Augen weiteten sich. Die Menge gab einen kollektiven Seufzer von sich. Der Indianer bedeckte sich die Augen mit seiner riesigen Hand, weil er nicht mit ansehen wollte, was unweigerlich als nächstes kommen würde. Dann ein scharfer Schmerz an meinem Kinn und die Welt versank in Dunkelheit.

Kurze Zeit später wachte ich in einem Sanitätszelt auf und fühlte mich peinlicher als je zuvor in meinem Leben. An meinem ersten Arbeitstag, und zwar gleich in den ersten Minuten, war ich von einem Mädchen umgehauen worden, das mich eiskalt erwischt hatte. Zugegeben, ich war völlig unvorbereitet gewesen, aber sobald ich versuchte, eine Ausrede für mich zu finden, waren die Worte „Mädchen“ und „klein“ nicht weit und verdrängten jeden Gedanken, der mich hätte aufmuntern können.

Okay, EINE Sache gab es doch, die mich tatsächlich besser fühlen ließ.

Sie saß rückwärts auf einem Stuhl direkt neben meinem Feldbett, ihr Gesicht rot vor Verlegenheit. Sie bemerkte, dass ich wach war, biss sich auf die Lippe und sah dabei sehr unsicher, fast schon verletzlich aus. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte, und so saßen wir beide ein paar Minuten schweigend da. Als die Situation allmählich immer unangenehmer wurde, fühlte ich mich gezwungen, die Barriere des Schweigens zu durchbrechen.

„Das ... ist ... also passiert. Ich ... äh.“

Weiter kam ich nicht, denn schon hielt sie sich eine Hand vors Gesicht und streckte mir die andere zur Begrüßung aus.

„Gail Espinoza.”

Ich richtete mich auf, verzog leicht das Gesicht vor Schmerzen, und schüttelte sie langsam und sanft.

„Sam Thorpe. Es ist mir ein Vergnügen.“

Sie seufzte und schaute sich um. Als sie zwei Gläser und einen Krug mit Wasser entdeckte, stand sie auf und brachte mir eins. Das andere trank sie mit einem Mal aus.

„Du hast einen verdammt guten rechten Haken", fügte ich hinzu, während ich einen Schluck nahm.

„Linker Haken.”

„Wie bitte?“

„Linker Haken. Ich hab mit der Linken zugeschlagen. Ich trage meine Sachen immer in der Rechten; so erwartet niemand einen Treffer von der anderen Seite. Es ist ein Trick, den ich gelernt habe ...“, sie hielt kurz inne, „vor langer Zeit.“

Ich nickte anerkennend.

„Ein netter, sauberer Trick.“

Sie entspannte sich, aber nur ein winziges bisschen. Offenbar war sie sich immer noch unsicher, wie der Tag verlaufen würde. Allein daran war zu erkennen, dass sie großen Mist gebaut hatte und ihr Konsequenzen drohten, wenn ich das Thema weiterverfolgen würde. Es war an der Zeit, meine Karten richtig auszuspielen. Und edelmütig zu sein. Es würde keinen Sinn machen, gleich am ersten Tag böses Blut im Lager zu haben.

„Also, ähm ... hör zu. Vergessen wir einfach, dass das jemals passiert ist. Aber du musst mir sagen, was los gewesen ist, dass du so wütend geworden bist, okay? Ich will keinen Ärger, ich will nur ...“, zuckte ich die Achseln, „den Job machen, für den ich bezahlt werde. Also, was sagst du?“

Sie nichte langsam und vorsichtig.

„Also gut. Ich kann dir alles erzählen. Wie viel Zeit hast du?“

Ich öffnete meine Arme.

„So viel wie es braucht. Ich hätte allerdings nichts gegen einen kleinen Imbiss und was zu trinken.“

Sie hatte ein schönes Lächeln. Wäre mein Lippe nicht geplatzt, hätte ich zurückgelächelt. Ich ließ meine Sachen am Feldbett zurück (das Zelt war ansonsten leer), erhob mich und ging mit ihr hinaus. Der Tag wurde endlich etwas besser.

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