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Eintrag 18

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Eintrag 18 – Das Bild, mit dem alles begann

Der Sonnenaufgang erwischte uns beim Packen. Ist nicht leicht, ein Camp abzubrechen, aber nichts dagegen, es abzubrechen, ohne die Hälfte des Krams einfach zurückzulassen.

In jener Nacht kriegte keiner mehr ein Auge zu. Wir hatten mehrere Verwundete – zum Glück nichts Schlimmes – und machten uns klar zum Abrücken. Erst der kritische Kram, dann der Rest. Alle beeilten sich mit einer Dringlichkeit, wie sie sonst nur für die schlimmste Katastrophen oder die düstersten Ängste reserviert ist.

Es wimmelt geradezu vor Einheiten der U.S. Army, und schier endlose Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge und Infanterie zogen südlich unseres Camps vorbei. Alle bedachten uns mit finsteren Blicken, doch zum Glück blieb es dabei. Nach dem, was Espinoza gesagt hat, bekam sie Murdoch relativ schnell nach dem Vorfall ans Telefon, und er machte sich sofort an die Arbeit und nutzte seine Kontakte zum Militär, um die Situation zu bereinigen.

Nach dem Eintreffen der ersten US-Einheiten kam es fast erneut zum Gefecht, doch im letzten Moment konnten die wütenden Soldaten durch einen Anruf bei einem höheren Offizier zum Einlenken bewegt werden. Alle, die in Hörweite waren, sprachen von jeder Menge Gebrüll und Kraftausdrücken, die ich hier lieber nicht wiedergebe. Uncle Sam leckte sich die Wunden und suchte nach einem Sündenbock. Wirklich irgendwem, vorzugsweise dem Schuldigen, aber wir hätten sicher auch gereicht.

Letzten Endes setzen sich (keine Ahnung, wie) dann doch die kühleren Köpfe und Murdochs Einfluss durch, und wir wurden freigelassen, inklusive der Beute, die – wie sich herausstellte – in Wahrheit Eigentum von Perihelion war.

Später an jenem Morgen unterbrach mich Espinoza beim Frühstück. Sie winkte mir vom immer noch stehenden Funkzelt zu (wir wollten es zuletzt abbauen, nur für alle Fälle). Ich seufzte, biss ein letztes Mal von dem Chef-MRE-Sandwich ab und warf den Rest weg, wobei mir klar war, dass ich es wohl eh nicht würde aufessen können.

Espinoza stand bei Kommunikationsoffizier Abernathy. Beide fummelten an einem Ding herum, das wir eine Black Box aus Metall und Plastik aussah. Einige Kabel hingen daran herunter. Ich bin jetzt nicht der EDV-Experte, weshalb ich lieber auf eine Erklärung wartete anstatt mich direkt zum Affen zu machen. Das war schon eine Herausforderung, vor allem der letzte Teil. Nach ein paar Sekunden summte und sirrte es aus dem Kasten und eine Reihe von Symbolen erschienen auf dem Bildschirm eines Laptops in der Nähe. Abernathy runzelte die Stirn.

„Irgendeine Art Laufwerk, falls jemand das noch nicht bemerkt haben sollte, und zwar verschlüsselt. Wie man sieht.”

Espinoza sah ihm über die Schulter und seufzte zur Antwort.

„Können wir das Ding knacken?”

Abernathy richtete sich auf, sichtlich beunruhigt.

„Sollten wir das denn? Ist Eigentum von Perihelion. Miss Ferguson würde wohl kaum...”

„... was dagegen haben, wenn wir nach Fallen suchen?” Espinoza lächelte unschuldig.

Abernathys Miene verfinsterte sich, wie immer, wenn er meinte, jemand halte ihn zum Narren.

„Das ist Bullshit, und das weißt du auch.”

„Mark”, warf ich ein. „Nichts gegen deine Loyalität, echt nicht, aber es hätte uns fast erwischt. Wir sollten wirklich ...”

Und ich betonte das Wort 'wirklich', wie in 'das wird sonst Konsequenzen für dich haben.'

„... wirklich versuchen, ein paar Antworten zu kriegen.”

Er kapierte die Andeutung und seufzte, schüttelte den Kopf und schob sich seine Brille die Stirn hoch.

„Mal sehen, was ich tun kann.”

Einige Minuten und mehrere Kraftausdrücke später hatte Abernathy etwas gefunden.

„Hab noch nie so einen Code gesehen” , murmelte er vor sich hin. „Ich will mal eben ...”

Der Bildschirm des Laptops erhellte sich plötzlich. Nun war eine Art Textmenü zu sehen, bei dem man mit den Cursortasten nach oben und unten gehen und verschiedene Punkte auswählen konnte. Doch da gab es ein Problem: Das Menü war in einer Sprache, die wir noch nie zuvor gesehen hatten. Das sah aus wie ... Ich war mir nicht wirklich sicher. Ägyptisch? Aber die Symbole waren anders, keine Hieroglyphen, sondern scharfkantige, rechteckige Zeichen ohne jede offensichtliche Bedeutung. Plötzlich fiel mir ein, dass ich diese Symbole ja schon einmal gesehen hatte, wusste aber nicht mehr wo oder woher sie gestammt hatten.

Abernathy konzentrierte sich auf eine einzelne blinkende Reihe, den offenbar zuletzt aufgerufenen Menüpunkt, und versuchte, sich seine Bedeutung zu erschließen, doch es lag auf der Hand, dass uns das nicht weiterbringen würde. Uns blieb nur noch eine Möglichkeit. Ich beugte mich über Abernathy und drückte die Enter-Taste.

Wieder wurde der Bildschirm schwarz, und diesmal geschah deutlich länger nichts, als würde die Kiste mit irgendjemandem oder irgendetwas kommunizieren (Unmöglich! Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten!). Dann enthüllte sich uns doch noch ihr Geheimnis, und zwar in Form eines weiteren seltsamen Videos.

Etwas, das wie ein Luftschiff aussah, schwebte über einem Vulkan, wobei ich noch nie zuvor so ein Luftschiff gesehen hatte. Vier riesige Impellers hielten es offenbar in der Luft, doch angesichts der schieren Größe des Kolosses schienen sie zu klein zu sein, denn immerhin war der enorme stählerne Rumpf über 100 Meter lang.

Nach unseren Gesetzen der Physik konnte so etwas gar nicht in der Luft bleiben, und dennoch tat es genau das und entfernte sich langsam von dem wütenden Inferno der Elemente darunter. Es lag auf der Hand, dass eine Crew an Bord war – aus den Lautsprechern des Laptops drang der Funkverkehr des seltsamen Vehikels, laut und deutlich, als käme er direkt von der Quelle.

Nein, das war kein Funkverkehr – sondern die Stimmen der Crew, ungefiltert.

Etwas geschah dort.

Die Welt auf dem Bildschirm ... fror einfach ein, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Die Aufzeichnung ging weiter. Den körperlosen Stimmen war offensichtlich klar, was da vor sich ging. Die Crew schien überrascht zu sein und langsam in Panik zu geraten. Aus dem Schock wurde schon bald das nackte Grauen, als inner- und außerhalb des Schiffs dann einfach ... Mir fehlten die Worte. Eigentlich verschwand alles, aber dann auch wieder nicht. Um verschwinden zu können, muss etwas überhaupt erst einmal existieren, doch die Geschehnisse auf dem Schiff deuteten darauf hin, dass die Sachen nicht einfach weg waren. Es war, als hätte es sie niemals gegeben. An ihre Stelle trat ein unbeschreibliches Nichts – eine Nicht-Farbe, die sich jeder Beschreibung entzog.

Mittlerweile waren nur noch Schreie zu hören, die Crew verlor den Verstand angesichts des Ausmaßes der Ereignisse, die sich vor ihren Augen vollzogen. Oben verschwanden die Wolken und die Sterne erloschen, grüppchenweise. Das Geschehen nahm offenkundig an Fahrt auf – die Berge, die Bäume, selbst der Vulkan verblasste, wie auch die vielen Stimmen und einzelne Teile des Schiffs. Am Ende war nur noch die Stimme eines Mannes zu hören, das durchgehende gequälte Heulen eines Mannes, dem das schlimmste Schicksal überhaupt ereilt hatte: als letzter Zeuge das Sterben einer ganzen Welt mit ansehen zu müssen. Und dann ... nichts, nur noch eine allgegenwärtige Finsternis.

Der Bildschirm wurde wieder schwarz, diesmal endgültig. Abernathy und ich sahen einander an, sprachlos. Das war ganz klar irgendein Film, computergenerierte Bilder, die einem kranken Geist entsprungen sein mussten ... und doch ... kam das nicht so rüber. Es kam uns allen sogar seltsam real vor – gerade Espinoza.

Sie zitterte, aschfahl, die Augen geschlossen. Ich hatte keine Ahnung, warum (erst später, aber nicht in jenem Moment, an jenem Ort), also versuchte ich, ihr meine Hand auf die Schulter zu legen. Sie schien das kaum mitzubekommen und sah mich nicht mal an.

„Alles klar?” Sagte ich.

Ihr Schweigen und ihr schnelles Atmen waren meine einzige Antwort, also wandte ich mich wieder an Abernathy, in der Hoffnung, er könne mir das erklären. Auch er war völlig fertig, flüsterte was vor sich hin, wieder und wieder, das Gesicht in den Händen vergraben.

Nach dem nächtlichen Gefecht war ich abgestumpft, was abgefahrene und unwirkliche Sachen anging, und obwohl es mir immer noch kalt den Rücken herunterlief, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf diese ganze Sache, und Tausende neuer Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Mir war noch keine einzige Antwort eingefallen, als die Stille von einer kalten, herrischen Stimme zerrissen wurde, die keinem von uns gehörte.

„Ich nehme mal an, das gehört mir.”

Murdochs strenge Visage starrte uns von einem Laptop in der Nähe an. Ganz offensichtlich hatte jemand eine Verbindung hergestellt. Wer die aufgebaut hatte und warum, wusste ich nicht, aber irgendwie WUSSTE der, was gerade passiert war. Und er fand das nicht gut – irgendetwas stimmte bei der Bildübertragung nicht, vielleicht auch nur eine Sinnestäuschung. Jedenfalls sah sein sonst so freundliches Gesicht so ... distanziert, uralt und fremdartig aus, nicht wie der charmante Geschäftsmann, den ich glücklicherweise (oder unglücklicherweise, wie mir da klar wurde) mal getroffen hatte.

An seine Stelle war ein Tyrann getreten, mit einer Aura der Macht, die trotz einer Entfernung von Tausenden von Meilen deutlich in jenem Zelt zu spüren war. Ich konnte mir nicht erklären, was genau da geschah, und erst später sollte mir klar werden, dass das, was ich damals empfand, schlicht und ergreifend eine elementare Angst gewesen war, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht warum, aber mir war vollkommen klar, dass dieser Mann auf dem Bildschirm uns alle wie Insekten zerquetschen würde, wenn ihm nur danach wäre.

Keiner wusste, was wir machen sollten. Murdoch musterte uns nacheinander mit seinem durchbohrenden Blick und stieß schließlich verächtlich die Luft aus, als wären wir den Aufwand gar nicht wert, wie Ameisen, die dem geheimen Wesen des Universums auf die Spur gekommen waren, und doch nichts damit anfangen konnten.

Und plötzlich konnte ich tief durchatmen (mir war nicht mal bewusst gewesen, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte) und ich fing an zu husten, weil ich voller Verzweiflung versuchte, so viel Sauerstoff wie nur möglich in meine Lunge zu kriegen. Ich spürte die Hitze und hörte von draußen die Geräusche aus dem Camp (ich hatte gar nicht bemerkt, dass beides weg gewesen war). Ich roch die vertraute Mischung aus kaltem Schweiß, schalem Kaffee und Benzin. Das Gesicht auf dem Bildschirm starrte uns noch immer an, doch es hatte nichts Verstörendes mehr an sich. Jetzt war es nur noch ein wütender Boss, der uns gleich eine Standpauke halten würde, weil wir nicht nach seiner Pfeife tanzten. Doch wir wussten es jetzt besser, und er wusste, dass wir das wussten.

„Ich bin sehr enttäuscht von dir, Gail” , sagte er zu Espinoza.

Ich zwang mich, die Zähne zusammengebissen, ihm direkt in die Augen zu sehen und zu nicken. Auch Espinoza nickte, und Murdoch schien es zufrieden zu sein – zumindest für den Augenblick.

„Also” , fuhr er fort.

„Gail, Mr. Thorpe, wir haben eine Menge zu besprechen. Helikopter sind unterwegs, um Sie abzuholen. Sie werden Sie zu einem privaten Flugplatz bringen, wo Sie dann in eine Maschine nach Chicago steigen werden. Sie werden den Behälter sowie alle anderen Objekte, die in der Basis geborgen wurden, mit sich führen. Sprechen Sie mit niemandem darüber. Das gilt auch für Sie, Mister Abernathy. Haben wir uns verstanden?"

Total. So was von. Mehr geht nicht. Mit Verlaub, ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wie ich jemals auf die Idee hatte kommen können, Murdochs Befehle zu missachten oder ihm irgendwie in die Quere zu kommen. Die Verbindung wurde getrennt.

Langsam verließen wir das Zelt und dachten darüber nach, was da gerade passiert war. Als wir herauskamen, winkte Abernathy noch einmal und lächelt schwach.

„Legt ein gutes Wort für mich ein, ja?”

„Geht klar, Mark.” Ich versuchte, sein Lächeln zu erwidern, aber es kam zu gekünstelt rüber, aber wandte ich mich lieber ab. Wir sollten ihn nie wieder sehen.

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