Über

Eintrag 4

scr4

Eintrag 4 – Versuch und Irrtum

Ein paar Stunden später stand ich vor einem unscheinbaren Waffengeschäft in einem der Außenbezirke. Es war ein übler Stadtteil, selbst für die „Windy City“. Der schäbige Ort sah geschlossen aus, die Gebäude drumherum verfallen. Ein paar zwielichtige Gestalten beäugten mich aus der Ferne, aber der verbeulte Chevelle, den ich nach meiner Rückkehr gekauft hatte, mein entschlossener Blick und vor allem die AR-15 in meinen Händen hielten sie auf Abstand. Hoffte ich zumindest.

Ich betrat den Laden durch die klapprige Holztür, und wurde dem älteren Besitzer, der hinter dem Tresen eine alte Zeitung las, durch eine altmodische Glocke angekündigt. Der Typ schaute kaum auf. Der Laden war vollgestopft mit minderwertigen Jagdgewehren, die ich in dieser Gegend sicher nicht erwartet hätte. Hier gab es nichts zu jagen, höchstens Beute auf zwei Beinen.

„Es ist geschlossen.“

Nach dem, was Hector mir erzählt hatte, lief alles nach Plan. Ich wiederholte den Satz, den er mir am Telefon gesagt hatte, Wort für Wort, in der Hoffnung, dass ich mich richtig erinnerte. Damals war‘s mir peinlich, ihn aufzuschreiben, jetzt biss ich mir auf die Lippen, dass ich es nicht getan hatte.

„Selbst die Sommer in Chicago sind kalt, lassen Sie mich bitte in Ihrer bescheidenen Baude ein wenig aufwärmen.“

Ich stand da, völlig verschwitzt, und fühlte mich sehr dumm, als ich den Spruch aufsagte. Wer hätte gedacht, dass es eine schlechte Idee war, ein sechzig Jahre altes Auto ohne Klimaanlage in einer Stadt zu fahren, in der das durch die Glasscheiben der Hochhäuser verstärkte Sonnenlicht den Asphalt zum Schmelzen brachte. Und was zum Teufel sollte diese Baude sein? So redet doch niemand!

Der alte Mann schaute endlich auf und hob die Augenbrauen. Mit seinem uralten Pullover, seiner altmodischen Silberbrille und seinem grauen Haar erinnerte er mich an einen freundlichen Großvater ... Ich hätte nicht falscher liegen können. Seine Augen verrieten seine wahre Natur – sie waren blau und kalt wie Stahl.

„Ach ja. Master Thorpe, stimmt‘s?“

Ich nickte.

„Ja, das bin ich.“

Langsam erhob er sich von dem Sitz, der sich als hölzerner Schaukelstuhl herausstellte. Wie urig. Der massive Revolver, den er hinter der Zeitung versteckt hielt, schlug laut auf den Tisch auf, obwohl er ihn recht sanft auf dem Holztisch abgelegt hatte. Das Ding musste ziemlich viel wiegen, dachte ich. Ein Schuss würde reichen, um mir den Garaus zu machen, selbst mit Schutzweste. Und der Kerl sah nicht so aus, als ob er daneben schießen würde. Ich musste schlucken. Er bemerkte meine Nervösität und setzte ein kaltes Lächeln auf.

„Ezra Rosenstein, zu Diensten. Folgen Sie mir bitte, Sir.“

Ich konnte seinen Akzent nicht wirklich zuordnen. Britisch vielleicht? Kanadisch? Ich bin viel rumgekommen, aber einen wie diesen habe ich noch nicht getroffen. Ich nahm an, dass nur wenige ein Treffen mit ihm überlebt haben. Den Mann umgab die Aura eines pensionierten Killers. Wahrscheinlich Spezialkräfte, vielleicht sogar von der CIA. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Tod er gesehen hat und wie viel davon auf seine Kappe ging.

Er öffnete eine Tür im hinteren Teil des Ladens, wo jedoch kein staubiger Lagerraum lag, wie ich erwartet hatte, sondern eine Betontreppe, die in die untere Etage führte. Als ich durch die Tür trat, sah ich, dass sie aus Stahl bestand und etwa drei Zentimeter dick war. Gepanzert, nahm ich an. Dieser Kerl spielte keine Spielchen, und ich verstand sofort, wie er in dieser Nachbarschaft überlebte. Keiner war so dumm, ihn zu überfallen.

Während ich ein paar Fluchtszenarien für den Fall durchspielte, dass etwas schiefging, kamen wir unten an und betraten einen ziemlich großen Raum, der mit Tischen, Karten und vor allem Waffen gefüllt war. Nicht die Art, die oben lag, das hier war modernes Zeug. Sturmgewehre, Schrotflinten – alles, was das Herz begehrt. Vor allem die Ma Deuce in der Ecke sah tödlich aus: sauber, gut geölt, geladen und einsatzbereit. Der Mann deutete stumm auf einen leeren Stuhl und setzte sich mir gegenüber.

„Also. Miss Norah hat mich gebeten, Sie zu begutachten. Ich tue das normalerweise nicht mehr, aber ...“

Schon wieder dieses Grinsen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, wie eine Schlange, die sich anschickt, ihr Opfer zu verschlingen.

...sie ist ziemlich charmant und kann sehr überzeugend sein", schlussfolgerte er, als würde er mit sich selbst reden, während er einen Stapel Papiere durchforstete, der auf dem Tisch zu seiner Linken lag.

„Ah, da sind Sie ja. Samuel Thorpe, geboren 1997 in New York, ja?”

Er warf mir einen kurzen Blick über den oberen Rand seiner Brille zu. Ich nickte einfach. Er las in der Akte und murmelte dabei vor sich hin.

„Mit 10 Jahren verwaist, hm, ja ... Bandengewalt, ziemlich tragisch. Hmm, eine traurige Ära ... wuchs in verschiedenen Pflegefamilien auf ... hatte eine Vorliebe für das Weglaufen ... ging zum Militär, fühlte sich aber nie wirklich zugehörig ... Nicht selten bei Männern Ihres Berufsstandes ... wurde nach Pollard Soldat ..."

Ich horchte verwirrt auf und unterbrach ihn.

„Pollard?“

Er runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Kind, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.

„Pollard gegen den Staat New York, Master Thorpe. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs, das alle Beschränkungen des Zweiten Verfassungszusatzes aufhob und Privatpersonen wie Ihnen ermöglichte, alle Waffen zu benutzen, die zuvor nur der U.S.-Armee vorbehalten waren. Mit Ausnahme von Atomwaffen, natürlich.“ Fügte er mit einem weiteren Lächeln hinzu.

Ich nickte, während er sprach, um nicht noch dümmer zu erscheinen.

„Richtig, richtig ...“

„Durchaus“, fuhr er fort. „Also, wo waren wir ... Ach ja, Ihre Karriere als Privatsoldat. Ein paar Jobs, aber nichts von Bedeutung. Ein paar Erfolge, eher durchschnittliche Ergebnisse. Hmm", sinnierte er, „Nicht der übliche Typ also.“

Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte oder woher er so viel über mich wusste, hielt es aber für klüger, nicht nachzufragen. Er beendete die Lektüre des Dokuments, warf noch einen flüchtigen Blick darauf, und legte es wieder oben auf den Stapel.

„Lassen Sie uns anfangen.“

In den darauffolgenden Stunden analysierte er jede Operation, an der ich beteiligt war, bis ins kleinste Detail, angefangen von meinen ersten stumpfsinnigen Wachdiensten bis zu dem Auftrag in Dubai. Er befragte mich ausgiebig zu meinem Wissen über Taktik und Schusswaffen, ebenso zu meinen Sprachkenntnissen und Problemlösungsfähigkeiten, bis wir schließlich zu einem Thema kamen, bei dem ich mir nicht ganz sicher war: Panzer.

„Wie Sie jetzt wissen, Master Thorpe, ermöglicht das bahnbrechende Pollard-Urteil Privatpersonen in den Vereinigten Staaten von Amerika, gepanzerte Fahrzeuge zu betreiben, die ‚zerstörerische Geräte‘ verwenden, wie es früher hieß. Dazu gehören unter anderem Panzer, Schützenpanzer und sogar Artillerie. Sollte es Ihnen gelingen, die Stelle zu bekommen ...“

Mir gefiel nicht, wie er das Wort „sollte“ betonte, aber ich war zu erschöpft, um mit ihm an diesem Zeitpunkt zu streiten.

"... werden Sie gebeten, das Arsenal Ihres Arbeitgebers um gepanzerte Fahrzeuge zu erweitern, während Sie die Ihnen zugewiesenen Missionen erfüllen. Und noch eine Sache, wenn Sie erlauben ...“

Ich verdrehte diskret die Augen, aber offenbar nicht diskret genug, denn das entging meinem liebenswürdigen, aber etwas irritierenden Gastgeber nicht, der darauf mit einem Stirnrunzeln reagierte.

„Master Thorpe, Sie sind sich anscheinend nicht im Klaren über das Ausmaß, ja sogar über die Natur der Dinge, die man von Ihnen verlangen wird. Sie verstehen doch sicher, dass wir niemanden brauchen, der unserem Leuten zeigt, mit welchem Ende des Gewehrs man schießt. Die Aufgaben, die Sie erwarten ...“

Er hielt plötzlich inne, schloss die Augen, als wolle er sich besinnen, und rieb sich mit den Fingern gegen die Stirn. Ich hatte das Gefühl, dass er kurz davor gewesen war, etwas zu verraten, was er nicht hätte verraten sollen, etwas Wichtiges. Hinter der kühlen Fassade verbarg sich ein Ausmaß an Unruhe, das ich so nicht erwartet hatte. Doch dieser winzige Riss in der Fassade verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er fuhr fort, gelassen wie zuvor:

„Um ein echter Mann zu sein, braucht es mehr als nur einer Waffe zu schwingen. Ein echter Mann, Master Thorpe, muss zu allem fähig sein und ein bisschen von allem können.“

Das war ein cleveres Ablenkungsmanöver, dachte ich, als ich mich wieder mit neuem Elan auf die Aufgabe konzentrierte. Hinter diesem Vertrag stand viel mehr, als ich dachte. Die Maske war einmal gefallen, sie würde es wieder tun. Vielleicht könnte ich das nutzen, um mein zukünftiges Gehalt zu steigern. Wir würden sehen. Eine Sache war jedoch sicher. Dieses Gespräch war fast vorbei.

Bevor ich jedoch auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, bewies mein rätselhafter Gastgeber erneut, dass er nicht nur einen, sondern fünf Schritte voraus war. Plötzlich erhob er sich von seinem Stuhl und verschränkte die Arme hinterm Rücken. Er sah aus wie ein Butler aus alten Zeiten; ein Butler, der einen eher mit einem kleinen Löffel umbringen würde, als den Nachtisch zu bringen.

„Sehr gut. Damit ist unser Treffen beendet. Ich werde meine Empfehlung noch heute Master Murdoch überbringen. Im Kofferraum Ihres ...", er setzte eine Pause, die gerade lang genug war, um mir seine Missbilligung über mein Fahrzeug zu verstehen zu geben, „... Autos werden Sie passende Kleidung für Ihr Treffen finden. Heute Abend, Punkt 19 Uhr, Hotel Bellevue. Kommen Sie nicht zu spät.“

Er streckte mir seine rechte Hand aus. Ich hatte eine Million Fragen. Murdoch? Miss Norah? Für welche Firma würde ich überhaupt arbeiten? Welchen Job würde ich genau machen?

Das Treffen war jedenfalls vorbei, und ich würde von dem Mann keine Antworten mehr bekommen. Fürs Erste jedenfalls. Etwas benommen erhob ich mich von meinem Stuhl, schüttelte die Hand des Mannes und machte mich langsam auf den Weg zur Treppe, die zurück in den Laden führte. Ich würde meine Antworten bekommen, so oder so. Ein paar Stunden mehr würden ich nicht umbringen.

Nach oben

About

Sei dabei!