Wie kam der T-62 zu seiner 115mm-Kanone?

Eines der meistproduzierten sowjetischen Panzerfahrzeuge ist der Kampfpanzer T-62 gewesen, der aus einem Programm zur Verbesserung des T-55 hervorgegangen ist. So weit, so gut - wie aber kam der T-62 an eine 115mm-Glattrohrkanone? Das Kaliber ist mehr als ungewöhnlich und die Sowjetunion besaß vor dem T-62 keine dafür ausgelegten Waffensysteme. Wie ist es also dazu gekommen?

T-621

Um die Antwort darauf zu finden, müssen wir uns in die fünfziger Jahre zurückversetzen. Damals hatten die sowjetischen Ingenieure erkannt, dass die 100mm-Kanone D-10T der T-54/55-Serie nicht mehr zeitgemäß gewesen ist. Die Technologie stammte aus dem Jahr 1944 und konnte sich ein Jahrzehnt später nicht mehr behaupten.

Aus diesem Grund wurde 1951 das Entwicklungsbüro Nr. 75 in Charkiw (dessen Leiter A. Morozow bereits an der Entwicklung des T-34, T-44 und T-54 beteiligt war) damit beauftragt, einen völlig neuen Panzer für die sowjetischen Streitkräfte zu bauen. Um seine Feuerkraft zu erhöhen, entwickelte das Entwicklungsbüro OKB-9 unter F. Petrow eine neue Gezogene 100mm-Kanone, die D-54. Die Entwickler planten den Einsatz von Stabilisatoren und gingen von exzellenten ballistischen Eigenschaften aus (1015m/s). Die Entwicklung dieser Kanone stellte sich jedoch als Knackpunkt des gesamten neuen Panzerprojekts heraus. Morozow präsentierte 1953 den ersten mit diesem Geschütz ausgestatteten Prototyp, das Objekt 430. Seine Entwicklung führte schließlich zum T-64, auch wenn andere Optionen in Betracht gezogen wurden.

T-622

Ein alternatives Programm wurde ein Jahr darauf in Nizhnij Tagil gestartet, wo man bei Uralvagonzavod (UVZ) unter der Führung von Leonid Kartsew an einem Programm zur Modernisierung des T-54 arbeitete. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar gewesen, dass der neue Panzer aus Charkiw nicht alle im Dienst befindlichen T-54er ersetzen würde, da er zu teuer war und seine Produktion zu viel Zeit in Anspruch nahm. Auch die Tatsache, dass die meisten Satellitenstaaten der Sowjetunion mit T-54-Panzern bestückt gewesen sind, die nach und nach alle modernisiert werden mussten, spielte bei der Entscheidungsfindung eine erhebliche Rolle.

Object 140 versus Object 430

Bei einem der ersten Versuche (Objekt 139) wurde ein T-54M mit der D-54-Kanone und experimentellen Zweiachsen-Stabilisatoren namens Raduga (Regenbogen) ausgerüstet. Das Hauptgewicht dieses Programms lag auf der Erhöhung der Feuerkraft dieses massenhaft produzierten Panzers. Das Fahrzeug mit dem Raduga-System wurde im Oktober 1955 getestet, wobei sich der Stabilisator als sehr unzuverlässig herausstellte und niemals in Produktion ging. Nach dem Raduga-Misserfolg wurde die Entwicklung der Stabilisatoren mit dem Projekt Molniya (Blitz) fortgesetzt, das 1955 mit besseren Resultaten und drei Prototypen abgeschlossen wurde. Eine mit diesem Stabilisator ausgerüstete D-54-Kanone bekam die Bezeichnung D-54TS.

T-623

Unterdessen ersann Kartsew eine alternative Nutzung für die D-54 und schlug 1954 vor, den Panzerprototypen „Objekt 140“ mit ihr auszurüsten. Er tat dies unter hohem persönlichen Risiko, da es weder in den Streitkräften, noch bei der Parteiführung eine dieses Fahrzeug betreffende Direktive gab und derartige Eigeninitiativen nicht gern gesehen wurden. Gleichwohl sind 1957 drei Objekt-140-Prototypen und ein Objekt-430-Prototyp fertig gewesen. Beide Modelle sind mit D-54TS-Kanonen bestückt gewesen und besaßen - nachdem weitere Tests mit dem Molniya-Programm nicht zufriedenstellend verliefen - ein neu entwickeltes Stabilisationssystem namens Metel (Schneesturm). Das Design von Objekt 140 erinnerte an den T-54-Panzer, besaß aber eine längere Wanne und sechs kleinere Laufrollen. Die Bugpanzerung ist 100mm dick und die frontale Geschützturmplatte 240mm stark gewesen. Außerdem wurde das Fahrzeug von einem neu entwickelten Motor angetrieben. Sowohl Objekt 430 als auch Objekt 140 wurden ausgiebigen Test unterworfen, einschließlich Vergleichsläufen auf dem Testgelände in Kubinka. Die Ergebnisse sind nicht überzeugend gewesen, da keines der Fahrzeuge in Sachen Feuerkraft an den T-54 heranreichte, woraufhin ihre Entwicklung eingestellt wurde. Stattdessen entschieden sich die Sowjets für ein Upgrade des T-54, aus dem der T-55 hervorging. Das hielt die Entwickler jedoch nicht davon ab, an neuen Verbesserungen zu arbeiten.

Der Royal-Ordnance-Schock

Wenn man an die „Panzerschock“-Szenarien denkt, fallen einem zuerst die Geschichten von überraschten alliierten Streitkräften ein, die sich zum ersten mal mit deutschen oder sowjetischen Technologien wie dem IS-3 konfrontiert sahen. Diese „Schocks“ (und der Auftritt der schweren sowjetischen Kampfmaschine ist in der Tat ein Schock für den Westen gewesen) initiierten üblicherweise Phasen fieberhafter Waffenentwicklung (die angesprochene Episode führte in Großbritannien zur Entwicklung des Conqueror, der darauf ausgelegt war, sowjetische Schwergewichte aus langer Distanz auszuschalten). Solche Situationen sind jedoch nicht exklusiv auf den Westen beschränkt gewesen. Die Sowjets mussten auch einen „Schock“ einstecken, als die britische Royal Ordnance L7 105mm-Kanone mit gezogenem Lauf auf der Oberfläche erschien.

Sowjetische Geheimdienstberichte beschrieben die L7 als qualitativ äußerst hochwertige Waffe, die mit Leichtigkeit zeitgenössische russische Panzerungen durchbrechen konnte. Die Tatsache, dass die Briten über eine solche Waffe verfügten, bereitete den Sowjets kaum Kopfzerbrechen, weil die mit der L7 ausgerüsteten Panzer hauptsächlich am Rhein stationiert waren. Besorgniserregend waren dagegen Berichte vom Start der lizensierten Produktion der Amerikaner, die das Geschütz seit 1960 unter der Bezeichnung M68 herstellten. Dies führte zu einer beispiellosen Gegenentwicklung.

Object165

Wieder einmal sah sich das Team um Kartsew der Aufgabe gewachsen. Ihr neuer Vorschlag basierte hauptsächlich auf Elementen des T-55, auch wenn der Durchmesser des Geschützturmrings deutlich von 1825 auf 2245mm erweitert wurde. Das Projekt wurde mit dem Turm von Objekt 140 sowie der D-54TS-Kanone ausgestattet. Die Entwickler schlugen auch die Verwendung zweigeteilter Munition vor, weil das Laden der langen Runden in dem engen Geschützturm sich immer noch schwierig gestaltete. Das neue Fahrzeug arbeite auch mit Überdruck und ist somit gegen Kampfgase und radioaktiven Staub resistent gewesen. Der Panzer erhielt die Bezeichnung Objekt 165.

Sowohl die fabrikinternen, als auch die militärischen Tests verliefen relativ zufriedenstellend, da der Panzer zum größten Teil aus bereits erprobten und massenhaft produzierten Teilen Bestand. Die größten Probleme traten bei der Mündungsbremse der D-54TS auf. Während der Schießtests im Februar 1960 stellte man fest, dass der vom Mündungsknall aufgewirbelte Schnee sich am Fahrerperiskop sammelte und gefror, was die Manövrierfähigkeit kritisch verringerte. Im Sommer hatte aufgewirbelter Staub und Schlamm denselben Effekt. Das Problem konnte durch eine Modifizierung der Mündungsbremse behoben werden. Am Ende bekam die Kanone die Fabrikbezeichnung U-8TS, sowie die GRAU-Bezeichnung 2A24. Das Fahrzeug wurde außerdem mit dem Meteor-Stabilisator ausgerüstet. Unter dem Namen T-62A trat es am 12.8.1961 schließlich seinen Dienst in der Sowjetarmee an.

Wie kam der T-62 also zu seiner 115mm-Kanone?

Um herauszufinden, wo die Ursprünge der 115mm-Kanone des T-62 liegen, müssen wir wieder in den Herbst von 1958 zurückkehren, als das OKB-9-Entwicklungsbüro unter F. Petrov die 100mm-Panzerabwehr-Kanone T-12 Rapira entwickelte. Es ist eine mächtige Waffe gewesen, die effektive HEAT-Geschosse abfeuern konnte. Leider wurde das Geschütz Nikita Chruschtschow präsentiert, der so davon begeistert war, dass er Panzer mit exakt dieser Waffe bestücken wollte. Um die Sache noch schlimmer zu machen, flüsterte ihm jemand zu, dass dies in kürzester Zeit möglich wäre, worauf Chruschtschow begeistert ausgerufen haben soll:

Großartig! Lasst uns nächstes Jahr 200 Panzer mit dieser Kanone bauen!

Was der Generalsekretär in seiner Begeisterung für möglich hielt, stellte sich in Wirklichkeit als viel zu kompliziert heraus.

Als Kartsew nach Moskau einberufen wurde und man ihm mitteilte, dass er die T-12-Kanone auf einen Panzer montieren sollte, lehnte er dieses Unterfangen geradewegs als unmöglich ab. Nach tagelanger „freundlicher, aber bestimmter“ Überzeugungsarbeit seitens der Parteigenossen bat er in seiner Verzweiflung um ein persönliches Treffen mit Chruschtschow, bei dem er ihn überzeugen wollte, dass sich die Gesetze der Physik selbst vor dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion nicht beugen würden.

Dass diese Aufgabe praktisch nicht umzusetzen war, lag vor allem an der Größe der Munition, die mit einer Länge von 1,2 Metern in dem engen Geschützturm des Panzers nicht geladen werden konnte. Am Ende bestanden die Parteigenossen jedoch darauf, dass ein dem Generalsekretär gegebenes Versprechen, sei es auch noch so unausgereift, nicht gebrochen werden konnte. Die Optimierung der Kanone begann mit einer Verkürzung der Munition auf 1,1 Meter. Um die gleiche Feuerkraft zu erhalten, entscheid sich Kartsev dabei für einen Kompromiss, bei dem die verkürzte Munition im Durchmesser vergrößert wurde. Das erreichten die Ingenieure, indem sie den Geschossdrall entfernten und die Kanone in ein Glattrohr verwandelten. Die entsprechenden Arbeiten wurden vom Entwicklungsbüro OKB-9 durchgeführt. Die anfänglichen Bedenken, dass diese Modifikationen die Präzision beeinträchtigen würden, stellten sich als unbegründet heraus. Die modifizierte Glattrohrkanone wurde auf einen „Objekt 165“-Panzer montiert (den zukünftigen T-62A), den man daraufhin „Objekt 166“ taufte. Im Verlauf des Jahres 1966 entstanden weitere Prototypen.

T-62

Die oben erwähnte Modifikation der D-54TS-Kanone ist der Grund für die Erhöhung des Kalibers von 100 auf 115mm gewesen. Nachdem die Ausschussvorrichtung versetzt und die Mündungsbremse entfernt wurde, entstand die U-5TS Molot (Hammer) 115mm-Glattrohrkanone. Schusstests ergaben, dass die Kanone im Vergleich zur älteren D-10TS zwar weniger präzise war, dafür aber die doppelte Reichweite erreichte, sowie exzellente Mündungsgeschwindigkeit (1600 m/s mit Subkalibermunition) und Durchschlagskraft besaß. Die Kanone wurde auf einen neu entwickelten Geschützturm montiert, der sich als solide und langlebig entpuppte. Der Turm wurde im Sommer 1961 auf eine Wanne des Modells „Objekt 165“ montiert. Der daraus entstandene T-62 wurde am gleichen Tag in Dienst gestellt, wie der T-62A (nämlich am 12.8.1961).

Warum zwei Panzer?

Der Kommandeur der sowjetischen Landstreitkräfte ist zu jener Zeit Marschall Vasilij Iwanowitsch Tschujkow gewesen. Tschujkow war Veteran der Schlacht um Stalingrad und bekannt für seine theatralischen und vulgären Ausbrüche. Als er 1960 von der Gefahr hörte, die von der 105mm-L7-Kanone ausging, setzte er sich umgehend mit dem Befehlshaber der Panzerverbände, Marschall Poluborjarow, sowie anderen GABTU-Offiziellen in Verbindung. Bei Gesprächen über das Objekt 430 informierten ihn seine Untergebenen, dass die D-54TS-Kanone von Objekt 165 der L7 nicht das Wasser reichen konnte. Um ihr Gesicht zu wahren erwähnten sie auch die gerade in Nizhnij Tagil entwickelte 115mm-Glattrohrkanone, die sie dem Marschall jedoch leider nicht zeigen konnten, da der mit ihr versehene Panzer mit kaputter Radaufhängung in der Werkstatt stand. Tschujkow war außer sich vor Wut und schrie sie an, ihm gefälligst keine Märchen von kaputten Radaufhängungen zu erzählen. Laut Zeugen soll er folgendes gesagt haben:

Ich will, dass ihr mir diese Kanone bringt, selbst wenn ihr sie einem Schwein auf den Rücken binden müsst!

Nach diesem „motivierenden Aufruf“ machte sich eine GABTU-Delegation auf den Weg nach Nizhnij Tagil, um den dortigen Direktor Okunjew zu fragen, wie schnell Objekt 166 in Massenproduktion gehen könnte. Okunjew antwortete, dass es solche Pläne gar nicht gäbe, weil bereits ein moderneres Fahrzeug in Entwicklung stand, nämlich das Objekt 167.

Kurz darauf wurden Vertreter der gesamten sowjetischen Panzerindustrie nach Moskau geladen und Okunjew erklärte sich nach einem ganzen Tag „Überzeugungsarbeit“ durch seine Genossen bereit, im Juli 1962 mit der Produktion von Objekt 166 zu beginnen. Gleichzeitig sollte auch der T-62A produziert werden, weil die Kanone die Hauptwaffe eines neuen Panzers aus Charkiw sein sollte, deren Entwicklung „zu teuer gewesen ist, um nicht in irgendeiner Art verwendet zu werden“. Der Versuch, die Kanone zu retten, scheiterte jedoch mit dem Scheitern des T-62A, der niemals in Massenproduktion ging.

T-62M

Es folgte eine Reihe von Verzögerungen, bis das Fahrzeug schließlich am 7. November während einer Militärparade als Teil der 4. Division in einer Stückzahl von 20 Exemplaren über den Roten Platz fuhr. Den ersten Einsatz erlebte der T-62 während der Besatzung de Tschechoslowakei 1968.

Das ist die Geschichte des T-62, des berühmtesten sowjetischen Panzers der Nachkriegszeit. Das Modell ist auch als Export äußerst erfolgreich gewesen. Dagegen ist seine Einsatzgeschichte geprägt von schlecht Trainierten Dritte-Welt-Armeen, die den Superpanzer gegen übermächtige Gegner kaum einzusetzen wussten. Nichtsdestotrotz ist der T-62 ein würdiger und solide gebauter Nachfolger des T-55 gewesen.

Nach oben

Sei dabei!